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Keine ausreichende soziale Absicherung, zu wenig Lohn und zu lange Arbeitszeiten
Die Polin Daria M., 45, hat zehn Jahre in Folge für jeweils sieben Monate in einem Betrieb in Deutschland gearbeitet. Trotz der langen Dauer wurde sie über Kettenverträge kurzfristig beschäftigt. Im August 2023 wurde sie zu dieser Erfahrung befragt, dabei verglich sie ihre Situation mit der ihrer Schwester, die in dieser Zeit in Polen bei einem Arbeitgeber beschäftigt war, der Sozialbeiträge abgeführt hat: "Ich habe diese zehn Jahre verloren, und das ist schlimm. Ich meine, keine Sozialbeiträge, besonders keine Rentenbeiträge. Jetzt mache ich mir große Sorgen, wenn ich die jungen Menschen heute sehe, die jedes Jahr nach Deutschland gehen, jünger als ich und sie haben keine Sozialversicherung." Das ist ein Schicksal von mehreren, wie sie beispielhaft im aktuellen Bericht über die Saisonbeschäftigung im Jahr 2023 zu lesen sind.
In der Saisonarbeit und der mobilen Beschäftigung gibt es eine Vielzahl von Sonderregelungen, meist zugunsten der Arbeitgeber*innen: Sie können Beschäftigte bis zu 70 Arbeitstage kurzfristig anstellen und damit Sozialversicherungsabgaben sparen. Sie können Ausnahmegenehmigungen für eine tägliche Arbeitszeit von bis zu zwölf Stunden statt der ansonsten üblichen Obergrenze von zehn Stunden einholen. Darüber hinaus können sie die Kosten für die Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung vom Mindestlohn abziehen und bei Aushilfstätigkeiten extrem kurze Kündigungsfristen von nur einem Tag im Arbeitsvertrag festschreiben.
Wie schon in den Jahren zuvor war die Grundproblematik im Jahr 2023 die oftmals deutliche Unterschreitung des Mindestlohns. Des Weiteren wurde mehrfach die Arbeitszeit über die gesetzlich erlaubte Grenze ausgeweitet. Erntearbeiter*innen, die die oft sehr hohen Leistungsvorgaben nicht erreichten, wurden nach wenigen Tagen mit extrem kurzer Kündigungsfrist entlassen. Obendrein wurde der Lohn erst kurz vor der Abreise ausbezahlt, so dass eine eingehende Kontrolle nur schwer möglich war. Festzustellen war auch, dass mehrfach überhöhte Kosten für die Unterbringung in Drei- und Vierbettzimmern den Beschäftigten vom Lohn abgezogen wurden. Schließlich war wie schon im vergangenen Jahr der Krankenversicherungsschutz ein Ärgernis. Immer noch sind die Gruppenversicherungen üblich, die keinen ausreichenden Schutz gewähren. Oftmals bleiben Arztkosten bei den Beschäftigten selbst hängen. Positiv wird in dem Jahresbericht vermerkt, dass sich teilweise die Qualität der Unterkünfte verbessert hat und vermehrt digitale Arbeitszeiterfassungssysteme genutzt werden.
Nach der Reduzierung der Anbauflächen von Spargel und Erdbeeren in den letzten Jahren, berichteten viele Arbeitgeber*innen, dass sie im Jahr 2023 weniger Schwierigkeiten hatten als zuvor, Erntearbeiter*innen anzustellen. Zugleich sind mobile Beschäftigte aus Osteuropa längst nicht mehr nur "Saisonarbeiter", sondern arbeiten teilweise über das gesamte Jahr verteilt in der Tierhaltung, in Baumschulen oder in der Pferdewirtschaft. Somit ist die Zahl der kurzfristig Beschäftigten über die Jahre gesunken, die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus dem Ausland jedoch gestiegen. Sie liegt jetzt auch in der Hochphase der Erntesaison Ende Mai über der Zahl der kurzfristig Beschäftigten. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Die Deutsche Rentenversicherung prüft die Beschäftigungsverhältnisse inzwischen offenbar strenger als zuvor an. Jüngst hat ein Sozialgericht bei einer Reihe von kurzfristig Beschäftigten entschieden, dass bei ihrer Anstellung eindeutig "Berufsmäßigkeit" vorgelegen habe. Bedingt durch den andauernden Arbeitskräftemangel greifen viele Arbeitgeber*innen jetzt langfristig auf Männer und Frauen aus Osteuropa zu.
Auf politischer Ebene gibt es zwei wichtige Entwicklungen. Noch im Frühjahr dieses Jahres könnte Deutschland eine Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifizieren. Sie definiert umfassende Mindeststandards in der Landwirtschaft, danach müssen beispielsweise alle Arbeitnehmer*innen, inklusive der Saisonbeschäftigten, gleichbehandelt werden. Die nationale Umsetzung der sozialen Konditionalität der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU muss in diesem Jahr erfolgen, die IG BAU wird sich dabei intensiv einbringen. Hier geht es darum, dass die Agrarsubventionen nicht nur an ökologische, sondern auch an arbeitsrechtliche Standards geknüpft werden.
Die Erntesaison in Deutschland erstreckt sich in der Regel von März bis Oktober. Im Jahr 2020 arbeiteten laut Statistischem Bundesamt insgesamt etwa 274 700 Menschen als Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft. Das Bundesamt führt nur alle zehn Jahre eine Landwirtschaftszählung durch. Nach einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit waren zum Stichtag 31. Mai 2023 rund 124 000 "ausländisch abhängig Beschäftigte in der Landwirtschaft, im Gartenbau und Forst" zu verzeichnen.
Im Jahr 2023 ging die Initiative Faire Landarbeit mit insgesamt 18 verschiedenen Teams im ganzen Bundesgebiet 47mal aufs Feld, dabei traten sie mit etwas mehr als 3300 Saisonbeschäftigten in direkten Kontakt. Das waren ähnlich viele Aktionen wie im Jahr 2022. Rund 80 Prozent der angetroffenen Beschäftigten waren Frauen und Männer aus Rumänien. Die zweitgrößte Gruppe bilden die Polinnen und Polen mit etwa 10 Prozent.
Die Initiative Faire Landarbeit ist ein Bündnis der gewerkschaftsnahen Beratungsstellen Faire Mobilität, dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen (EVW) und dem Beratungsnetzwerk "Gute Arbeit" von Arbeit und Leben, der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), kirchlichen Beratungsstellen sowie des PECO-Instituts. Seit dem Jahr 2018 erscheint regelmäßig der Jahresbericht zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft.
Zitate
Harald Schaum, Vizebundesvorsitzender der IG BAU:
"Auf der Grünen Woche Anfang dieses Jahres haben wir als IG BAU mit unseren Schwestergewerkschaften aus Polen, Bulgrien und Rumänien ein Kooperationsabkommen zur Saisonarbeit unterzeichnet. Die Kolleg*innen berichteten uns von der enormen Herausforderung des Fach- und Arbeitskräftemangels in diesen Staaten. Für sie ist es – gerade im Jahr der anstehenden EU-Wahlen – inakzeptabel und nicht nachvollziehbar, dass wir in Deutschland auf die Arbeitskraft ihrer Landsleute setzen, aber kurzfristig Beschäftigten, die teilweise über Jahrzehnte auf unseren Feldern schuften, nicht nur den vollen Krankenversicherungsschutz verweigern, sondern auch Rentenansprüche. Indem wir sie zu Beschäftigten zweiter Klasse machen, untergraben wir bei diesen Menschen und den Menschen aus ihren Herkunftsländern das Vertrauen auf ein solidarisches und sozial gerechtes Europa."
Anja Piel, DGB-Bundesvorstandsmitglied:
"Es muss ein Ende haben, dass manche Arbeitgeber Saisonbeschäftigten mit völlig überteuerten Unterkünften das Geld aus der Tasche ziehen, die oft auch noch in miserablem Zustand sind. Hier muss der Gesetzgeber handeln: Für die Unterbringung in Gruppenunterkünften sollte künftig der Arbeitgeber die Kosten tragen und nicht auf den Lohn anrechnen können. Mindestens aber sollten Unterkunftskosten auf die Sachbezugswerte der Sozialversicherungsentgeltverordnung begrenzt sein: Das wären bei drei Beschäftigten in der Unterkunft aktuell 97,30 Euro monatlich pro Person – statt bisher 300 Euro und mehr für kleinste Zimmer mit Mehrfachbelegung."