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Inklusion und Arbeitsmarkt: Man muss nur wollen

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(Foto: Jakub Pabis / Unsplash)
09.01.2024
Arbeit

Neue Arbeitskräfte braucht das Land. Immer öfter und immer wieder verweisen Unternehmen darauf, wie schwierig es ist, Beschäftigte für ihre Betriebe zu finden. Und vergessen dabei oft: Auch Menschen mit Behinderungen haben eine Chance auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt verdient.

Ein außergewöhnliches Fernseh-Projekt sorgte in den vergangenen Monaten für Aufsehen: Zum Schwarzwälder Hirsch. Darin wird anschaulich gezeigt, wie junge Menschen mit Down-Syndrom fit für einen Job in der Gastronomie gemacht werden. Ein ausgezeichnetes Projekt, unter anderem gab’s den renommierten Grimme-Preis. Die Jury begründet folgendermaßen: "Es handelt sich hierbei um ein Projekt, das beweisen soll, dass Menschen mit Down-Syndrom auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten können und es verdient haben, einem Beruf nachzugehen und dafür bezahlt zu werden. Menschenmit Down-Syndrom gelten in Deutschland als 'nicht ausbildungsfähig'. Das ganze Setup der Show stellt genau diese Prämisse infrage. Mehr noch: Sie kritisiert die Tatsache, dass vielen Menschen mit Behinderung nur eine Tätigkeit in Werkstätten übrigbleibt und erhebt damit indirekt eine politische Forderung. Darüber hinaus versucht die Show, an der Vorstellung ihres Publikums, und damit der Mehrheitsgesellschaft, zu rütteln."

Stimmt, sich vorstellen, dass Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung auch für Jobs im ersten Arbeitsmarkt geeignet sind, können leider immer noch wenige. Im September 2023 waren bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg 165 834 schwerbehinderte arbeitslose Menschen gemeldet. Hinzu kommen noch etwa 300 000, die in Werkstätten für behinderte Menschen weit unter dem Mindestlohn arbeiten. Im Durchschnitt verdienen sie rund 200 Euro im Monat. Das ist möglich, weil sie nicht als Arbeitnehmer*innen gelten, sondern einen daran angelehnten Status haben. Offiziell gilt arbeiten in einer Werkstatt als Rehabilitationsmaßnahme.

Ein Umstand, den auch die Vereinten Nationen (UN) kritisieren. 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft getreten. Regelmäßig überprüft der zuständige UN-Ausschuss die Umsetzung. Anfang Oktober veröffentlichte er seinen jüngsten Report. Darin fordert er unter anderem von Deutschland Strategien für die Beschäftigung behinderter Menschen, um diese statt in Werkstätten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterzubringen.

Mehr als bislang

Sicher, nicht alle Menschen mit Behinderung sind für den regulären Arbeitsmarkt geeignet. Aber mehr als bislang. "Wir müssen immer wieder Überzeugungsarbeit leisten", betont Anastasios Sekeris. Der 55-Jährige ist Betriebsrat und Schwerbehindertenvertreter bei der SPIE Efficient Facilities GmbH in der Region Nordwest. "Manchmal fühle ich mich nicht ernstgenommen und kämpfe wie Don Quijote gegen Windmühlen." In seinem Zuständigkeitsbereich vertritt er 44 Schwerbehinderte, in den sieben SPIE-Regionen sind es über 206 Kolleginnen und Kollegen. "Die arbeiten nicht nur in der Verwaltung, sondern auch auf handwerklichen Stellen." 

Vieles geht, man muss es nur wollen. In Gesprächen mit Führungskräften, den Beschäftigten und auch dem Integrationsamt bohrt Anastasios oft dicke Bretter, aber lässt sich nicht unterkriegen. Gemeinsam mit den anderen Schwerbehindertenvertreter*innen bei SPIE verhandelt er derzeit eine Inklusionsvereinbarung mit klaren Regeln, die für den gesamten SPIE-Konzerngelten soll. "Wir Schwerbehindertenvertreter*innen möchten für den Umgang
miteinander sensibilisieren", begründet er sein Engagement. Er selbst ist auch schwerbehindert, mal geht es ihm besser, mal schlechter. "Mir fehlen oft das Verständnis und der Respekt."

Anastasios Sekeris, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertreter bei SPIE in der Region Nordwest.
(Foto: zplusz/Timo Heller) "Wir müssen immer wieder Überzeugungsarbeit leisten". Anastasios Sekeris, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertreter bei SPIE in der Region Nordwest.

Vielen Führungskräften in verantwortlichen Positionen fehlt auch das Wissen, was alles möglich ist.

Laut "Inklusions-Barometer 2022" der Aktion Mensch wissen nur drei Viertel der befragten Personalverantwortlichen über die öffentlichen Unterstützungsmöglichkeiten Bescheid. 2017 waren es noch 84 Prozent. Die Bekanntheit steigt mit zunehmender Unternehmensgröße. Bei kleinen Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeiter*innen kennen 41 Prozent die Fördermöglichkeiten nicht, bei Großunternehmen sind es lediglich 15 Prozent. Es gibt zudem enorme Unterschiede zwischen den Branchen: In der öffentlichen Verwaltung sind 88 Prozent, im Bereich Gesundheit, Soziales, Kultur sogar 92 Prozent der Unternehmen die staatliche Förderung bekannt. In der Industrie kennen dagegen nur 72 Prozent der Unternehmen die Unterstützungsmöglichkeiten. In der Praxis kommt zu diesem Nicht-Wissen aber auch ein massives Nicht-Wollen. Eigentlich müssen Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Schwerbehinderung vergeben. Etwa 75 Prozent der Unternehmen erfüllen die Quote nicht. Laut Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, beschäftigt ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Betriebe keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung. Daran soll und muss sich etwas ändern.

Neues Gesetz für Inklusion

Am 1. Januar kommenden Jahres tritt das "Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts" in Kraft. Danach erhalten Unternehmen, die behinderte Menschen beschäftigen, mehr finanzielle Unterstützung. Firmen, die dies nicht tun, müssen höhere Abgaben zahlen. Umstritten ist der Wegfall der Bußgelder. Glück, in einer Behörde und damit im öffentlichen Dienst zu arbeiten, hat Sabine Kirsch. Die studierte Biologin ist beim Regierungspräsidium Darmstadt angestellt. Aufgrund ihrer fortschreitenden Multiple Sklerose arbeitet sie mittlerweile überwiegend im Home-Office. "Wenn ich mal vor Ort sein muss, ist schon die Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwierig." Wohin sie schaut: Barrieren. Und auch wenn ihre Behörde eigentlich behindertengerecht gebaut ist, steht sie oft vor Hindernissen. Sei es, weil eine Tür verschlossen ist oder doch zwei Stufen zu überwinden sind. "Man sollte behinderte Menschen viel mehr einbinden und ihnen viel mehr zutrauen." Eine Forderung, der sich Anastasios nur anschließen kann. "Es ist ein Geschenk, nicht behindert zu sein. Aber nur, weil wir behindert sind, sind wir doch keine Menschen zweiter Klasse."

Text: Christiane Nölle
Der Beitrag ist erstmals in der November-Ausgabe des Grundstein erschienen.

Das gilt ab Januar 2024

  • Das Bewilligungsverfahren in den Integrationsämtern wird beschleunigt. Anträge, über die nicht innerhalb von sechs Wochen entschieden wird, gelten als genehmigt.
  • Der Lohnkostenzuschuss wird nicht mehr auf 40 Prozent des vom Unternehmen regelmäßig gezahlten Arbeitsentgeltes begrenzt.
  • Bei der Schwerbehindertenausgleichsabgabe wird eine vierte Staffel eingeführt. Diese ist von denjenigen Unternehmen zu entrichten, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Für kleinere Unternehmen zwischen 20 und 59 Arbeitsplätzen gelten Sonderregelungen, die geringere Beträge vorsehen.
  • Die Mittel aus der Ausgleichsabgabe sollen zukünftig vollständig zur Unterstützung und Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwendet werden.
  • Unterstützt werden Unternehmen durch einheitliche Ansprechstellen, die seit Jahresbeginn 2022 deutschlandweit errichtet werden und arbeitgeberunabhängig und trägerübergreifend zur Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen beraten sowie bei der Beantragung von Förderleistungen unterstützen.